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Landeselterninitiative für Bildung legt Positionspapier zum achtjährigen Gymnasium vor

Das Positionspapier steht hier zum Download zur Verfügung.

Viele Eltern im Saarland sorgen sich wegen einer unzureichenden Schulbildung sowie schlechteren Zukunftschancen ihrer Kinder. Virulent ist diese Sorge bei Eltern, deren Kinder das achtjährige Gymnasium (G 8) besuchen. Denn die Verkürzung der Schulzeit hat unbestreitbar die Atmosphäre des Bewährungsdrucks an Schulen hochgeschraubt und zu hoher Arbeitsbelastung sowie enormen Leistungsanforderungen geführt, in vielen Fällen verbunden mit gesundheitlichen Problemen bei Kindern. Kinderpsychologen sprechen über ein Ansteigen ihrer Patienten aus dem G 8. Viele Kinder können das Gymnasium ohne Hilfe der Eltern oder von Instituten tatsächlich nicht mehr bewältigen. Von längeren Auslandsaufenthalten raten Lehrerinnen und Lehrer inzwischen ab. Es bleibt weniger Zeit für außerschulischen Sport und Musisch-Kulturelles sowie Hobbys. Besonders heftig trifft es die fast 3 000 Schülerinnen und Schüler, die als erste im G 8 in die Oberstufe eingetreten sind und dort auf den letzten Jahrgang des neunjährigen Gymnasiums treffen. Sie müssen mit einem Jahr weniger Erfahrung und Unterricht im Jahr 2009 dasselbe Abitur packen und mit doppelt so vielen um die Studien- und Ausbildungsplätze konkurrieren. Eine Verletzung des Rechts auf Gleichbehandlung befürchten wir wegen gravierender Benachteiligungen. Zudem verschlechtert das achtjährige Gymnasium die Arbeitsbedingungen der Lehrerinnen und Lehrer.

 
Eine Liste von Defiziten:

•    Allgemein sind im Saarland für die Eltern Informationen über die Ergebnisse schulischer Bildung sowie Vergleichsdaten sehr schwer zugänglich und nicht hinreichend verfügbar.

•    Eltern im Saarland haben keine einzige Möglichkeit, ein echtes Ganztagsgymnasium zu wählen, an dem der Unterricht besser rhythmisiert ist und mehr Zeit für die Förderung der Schülerinnen und Schüler besteht. Noch in diesem Monat hat Bildungsministerin Kramp-Karrenbauer der Landeselterninitiative auf ihre Forderung, statt Betreuung und Versorgung nachmittags an verteilten Standorten ein gutes pädagogisches Schulkonzept im gebundenen oder teilgebundenen Ganztagsbetrieb, nämlich "echte Ganztagsschulen" anzubieten, eine definitive Ablehnung mitteilen lassen.

•    Das Saarland hat mit durchschnittlich 29,6 Schülerinnen und Schülern in den Klassenstufen 5 und 6 des Gymnasiums die größten Klassen aller Bundesländer an den Gymnasien. Mit durchschnittlich 27,9 Schülerinnen und Schülern je Klasse in den Stufen 5 bis 10 zusammen liegt es auf dem drittschlechtesten Platz unter den Bundesländern (Quelle: KMK-Dokumentation 184 - Schüler-Klassen-Lehrer-Absolventen 1997-2006, November 2007).
Den Schülerinnen und Schülern im achtjährigen Gymnasium hilft die sog. Kleinere-Klassen-Garantie des Ministerpräsidenten vom September 2007 nicht weiter, ab dem Schuljahr 2008/2009 seien die 5. Klassen der weiterführenden Schulen und dann aufsteigend nicht größer als 29 wie an den Grundschulen. Denn nach unseren Berechnungen mit der Datenbasis des Statistischen Landesamtes sind an den Gymnasien heute in 62,5 % der Klassen der Stufe 5 dreißig Kinder und mehr, in der Klassenstufe 6 in rund 43 %, in der Klassenstufe 7 rund 47 % der Klassen (Klassenstufe 8 = 22 %, 9 und 10 =  rund 17 %; Durchschnitt bei allen Klassenstufen = 35 %).

•    Trotz der Verkürzung der Gymnasialzeit um ein Jahr sind die Lehrpläne nicht ausreichend angepasst. Lehrerinnen und Lehrer müssen unter großen Schwierigkeiten unterrichten; sie wurden nicht ausreichend unterstützt. Dies führt in hohem Maße zu Unzufriedenheit und belastet das Verhältnis Schüler/Lehrer.

•    Die Verkürzung der Schulzeit hat unbestreitbar die Atmosphäre des Bewährungsdrucks an Schulen hochgeschraubt und zu hoher Arbeitsbelastung sowie enormen Leistungsanforderungen geführt, in vielen Fällen verbunden mit gesundheitlichen Problemen bei Kindern.

•    Mehr Lern- und Verhaltensstörungen treten auf. Kinderpsychologen und Kindertherapeuten sprechen über ein Ansteigen ihrer Patienten aus dem G 8.

•    Viele Kinder können das Gymnasium ohne Hilfe der Eltern oder von Instituten tatsächlich nicht mehr bewältigen.

•    Von längeren Auslandsaufenthalten raten Lehrerinnen und Lehrer inzwischen ab. Es bleibt weniger Zeit für außerschulischen Sport und Musisch-Kulturelles sowie Hobbys.

•    Jungen sind gegenüber den Mädchen benachteiligt, denn das achtjährige Gymnasium trifft gerade sie in ihrer Entwicklungskrise.

•    Durch das Zusammentreffen der Schülerinnen und Schüler des achtjährigen Gymnasiums mit denen des neunjährigen befindet sich fast die doppelte Anzahl in der Oberstufe an den Gymnasien (heutige Klassen 11 und 12 bis zum Abitur 2009).*  Es sind größere Gruppen in den Kursen der Oberstufe entstanden. Je nach Fach findet für die Klassen 11 und 12 gemeinsamer Unterricht statt, mit Klassenarbeiten und Benotung,  bei unterschiedlichem Entwicklungs- und Bildungsstand. Schülerinnen und Schüler in den 11. Klassen haben einerseits Aufholbedarf. Andererseits tritt die Gefahr der Überforderung ein, da sie, die mit dem G 8 bereits einen schwierigeren Weg hinter sich haben, vier Stunden pro Woche mehr Unterricht absolvieren müssen.

•    Die Schülerinnen und Schüler in den 12. Klassen (Doppelabiturjahrgang) schreiten verzögert voran; dabei entsteht die Gefahr der Unterforderung und des Motivationsverlusts.

•    Die Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer haben sich weiter verschlechtert (größere Kurse, mehr Korrekturen, höherer Leistungsdruck).

•    Für die Schülerinnen und Schüler des G 8 besteht die Gefahr, für das Abitur schlechtere Noten zu erhalten.

•    Sie haben dann schlechtere Zugangschancen in den Numerus-Clausus-Fächern an den Hochschulen.

•    Sie werden Schwierigkeiten haben, bei fast doppelter Abiturientenzahl einen Studienplatz oder einen Ausbildungsplatz zu erhalten.

•    An den Hochschulen im Saarland besteht schon wegen geburtenstarker Jahrgänge, des steigenden Bedarfs an Beschäftigten mit Hochschulabschluss und des größer werden Ersatzbedarfs für ausscheidende Akademiker Studienplatzmangel. Hinzu kommt  im Jahr 2009 fast die doppelte Anzahl an Abiturienten. Dafür reichen die im Zusammenhang mit dem sogenannten Hochschulpakt bekannt gewordenen Studienplatzzahlen (1.500 Studienanfänger mehr sollen aufgenommen werden) nicht aus.


Schulen sind nicht in erster Linie „Wissensfabriken“, deren Qualität primär an quantitativ zählbaren Testpunkten gemessen und durch Druck auf die Lehrenden und Lernenden gesteigert werden kann. Veränderungen dürfen nicht mit einer ausschließlichen Fokussierung auf Unterricht angepackt werden, sondern müssen auch die anderen Entwicklungsaufgaben der Schule für diesen Lebensabschnitt der Kinder und Jugendlichen angemessen berücksichtigen. Wir müssen endlich weg von einem Bildungssystem, das zu stark darauf ausgerichtet ist, überdurchschnittliche Schüler von unterdurchschnittlichen zu trennen. Hin zum Ausgleich individueller Schwächen und zur Förderung der Talente. In den Schulen müssen die Rahmenbedingungen für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen und die Individualisierung des Unterrichtes so geschaffen werden, dass eine Pädagogik des Förderns an die Stelle einer Pädagogik der Auslese tritt. Lehrerinnen und Lehrer brauchen eine entsprechende Fortbildung und endlich mehr Zeit, sich um die individuelle Förderung der Kinder kümmern zu können.


Unsere Forderungen zum achtjährigen Gymnasium:

•    Allgemein fordern wir einen periodischen Bericht der Landesregierung, der es Eltern ermöglicht, sich die Qualität schulischer Bildung sowie ihre Defizite zu erschließen und sich ein Bild über Ziele und geplante Entwicklungsschritte im Schulsystem zu verschaffen.

•    Wir meinen, dass Gymnasien, die ein gutes pädagogisches Konzept im gebundenen oder teilgebundenen Ganztagsbetrieb anbieten würden, ganz viel von dem Druck auf Kinder und Lehrer abfangen und individueller fördern könnten, und verweisen auf Rheinland-Pfalz, das ab dem Schuljahr 2008/2009 die 12-jährige Schulzeit bis zum Abitur zunächst nur an ausgewählten Gymnasien aber in Verbindung mit einer Ganztagsschule einführen will. Im Saarland ist ein flächendeckendes Angebot echter Ganztagsschulen notwendig.

•    Notenvergleiche zwischen zwei Klassenstufen in der Oberstufe allein reichen nicht aus, um die Situation der Schülerinnen und Schüler im achtjährigen Gymnasium zu bewerten und daraus Schlüsse zu ziehen. Wir fordern – im Übrigen in Abstimmung mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und der Gesamtlandesschülervertretung - eine wissenschaftliche Analyse der Wirkung des achtjährigen Gymnasiums auf Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie für den Bildungserfolg und die Organisation des Schulsystems.

•    Wir begrüßen die Einrichtung des Schengen-Lyceums in Perl mit seinem Konzept. Organisation und Differenzierung dieser Schule dienen den Zielen, eine gemeinsame wissenschaftsorientierte, praxisbezogene Grundbildung für alle Schülerinnen und Schüler zu vermitteln sowie die Entfaltung von Begabungs- und Leistungsschwerpunkten des Einzelnen unter Berücksichtigung individueller Lernmöglichkeiten und Lerninteressen zu fördern. Dabei wird der Vermittlung praxisbezogener Sprachkenntnisse und interkultureller Kompetenzen besondere Bedeutung beigemessen.
Es darf doch die Entwicklung nicht bei Privilegien für diese eine Schule stehen bleiben. Wir fordern vergleichbare Konzepte für alle Schulen und die Einführung einer generellen Schülerrichtzahl von 27 für weiterführende Schulen, wie sie beim Schengen-Lyceum gilt. Wir fordern Lösungen für die heutigen zu großen Klassen an den weiterführenden Schulen, nicht erst für die Kinder, die neu hinzukommen. Lösungen, die mit den Schulgemeinschaften vor Ort entwickelt werden sollen.**

•    In die Zeit der Verwerfungen mit dem achtjährigen Gymnasium und ohne Erfahrungen mit dem G 8-Abitur dürfen nicht noch Schwierigkeiten durch eine unzureichende Vorbereitung der neuen Oberstufe bzw. der Schülerinnen und Schüler auf diese Schulphase gebracht werden. Die Kraft der Lehrer, der Kinder und Eltern darf nicht durch Aktionismus ermüdet werden.

•    Unterrichtsausfall darf nicht eintreten, die Lehrerreserve muss verstärkt werden.

•    Ein Verstärkung des schulpsychologischen Dienstes ist notwendig.***

•    An den Gymnasien sind die räumlichen und materiellen Voraussetzungen sowie eine vernünftige Verpflegung für den vermehrten Nachmittagsunterricht der G 8-Schüler zu schaffen.

•    Vereinbarungen der Politik mit der Wirtschaft über ausreichende Ausbildungsplätze im Abiturjahr 2009 sind notwendig; die Öffentlichkeit muss über das Ergebnis informiert werden.

•    Die Landesregierung muss die Hochschulen so ausbauen, damit sie für den doppelten Abiturjahrgang ausreichend Studienplätze verfügbar haben.


* Statt 2.990 wie im Jahr 2007 und 3.090 im Jahr 2008 werden im Saarland im Jahr 2009 5.890 Schüler die Hochschulreife erhalten und Studienplätze sowie Ausbildungsplätze anstreben (Quelle: KMK-Statistik).

** In kleineren Klassen werden Lerndefizite und individuelle Probleme von Schülern rascher und klarer erkannt, sie können umfassender und gründlicher aufgearbeitet werden. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer: „Untersuchungen vor einigen Jahrzehnten fanden keinen Zusammenhang zwischen Klassengrößen und Lernerfolg. Zwar haben Lehrer immer gefordert, sie brauchen kleinere Klassen, aber ihnen wurde geantwortet, da gibt es empirisch keinen Zusammenhang. Mittlerweile ist ein Zusammenhang erwiesen. Ab fünfundzwanzig nimmt der Schulerfolg ab. Wir brauchen heute kleinere Klassen, weil die Varianz der Schüler so groß ist. Man braucht einfach mehr Zeit.“

*** An der Schulentwicklung muss eine effiziente psychologische und sozialpädagogische Beratung beteiligt sein und generell Bestandteil der Organisationsentwicklung der Bildungsarbeit werden. Desolat erscheint uns dagegen schon das schulpsychologische Stützsystem im Saarland. Während zum Beispiel in Finnland und Dänemark ein Psychologe bis zu 800 Schüler betreut und in den USA die Relation noch bei 1:1.000 liegt, in Russland sogar bei 1:500, müssen wir wegen eines Verhältnisses von bis zu 1:18.000 (!) im Saarland monatelange Wartezeiten hinnehmen.